Pflege endet nicht mit Verbandswechsel

„Ich freu’ mich immer schon auf diesen Tag.“ Die weißhaarige Frau mit dem flotten Kurzhaarschnitt tritt eifrig nach dem Ball, der unterm Tisch hin- und hergekickt wird. Dabei wusste sie am Vormittag noch gar nicht, wo sie den Nachmittag verbringen wird. Sie hat es einfach vergessen. „Lebenslust“ nennt sich das Nachmittagsprogramm der Sozialstation – ein Angebot für Menschen mit Demenz.

Vier Frauen und ein Mann sitzen an der liebevoll österlich gedeckten Kaffeetafel. Umsorgt werden sie von Martina Vosseler und Karin Märländer. Jeden Donnerstagnachmittag holen sie die Demenzkranken zu Hause ab. So haben auch die Angehörigen einmal in der Woche einen freien Nachmittag. Die älteren Herrschaften leben allesamt noch in den eigenen vier Wänden – entweder mit dem Ehepartner, ihren Kindern oder einer Pflegekraft zusammen. Denn ganz alleine geht es schon eine Weile nicht mehr.

Der Fußball läuft unterm Tisch hin und her. Der Mann trifft am besten. Er erinnert sich gut, in welchem Verein und auf welcher Position er seinerzeit gespielt hat. Nur, was er heute Morgen zum Frühstück gegessen hat, das will ihm einfach nicht mehr einfallen. Macht aber nix. Vosseler und Märländer holen ihre „Lebenslust“-Teilnehmer ab – nicht nur mit dem Auto von zu Hause, auch bildlich gesprochen. Und wenn kurz vor Ostern eine fröhliche ältere Dame ein Weihnachtslied anstimmt, dann singen alle mit – ob’s nun in die Jahreszeit passt oder nicht, ist dabei nicht wichtig. Wichtig ist das Erfolgserlebnis. An die altbekannten Textzeilen können sich alle erinnern. Das macht sie froh.

Im Gemeinschaftsraum der Wohnanlage in der Pfalzstraße gibt es große Fenster. Da wird genau verfolgt, wer draußen vorbeiläuft. Das gibt Gesprächsstoff. „Wo will die denn mit dem großen Paket hin?“. „Sie hat aber schicke Schuhe an.“

Martina Vosseler greift derweil zum Akkordeon. Gesungen werden ausschließlich alte Volkslieder. Die Frauen und der Mann sehen in die Liederbücher. Lesen können einige von ihnen gar nicht mehr. „Das Wandern ist des Müllers Lust“, bekommen sie dennoch zusammen.

Vosseler ist gelernte Krankenschwester. Der Nachmittagstreff ist ihr Ding. „Die Pflege hört nicht beim Verbandswechsel auf“, sagt sie. „Wir sind das Topping für die Leute.“

Neben der sportlichen Betätigung und dem Singen steht stets Basteln auf der Agenda. Akkurat werden die Ostereier angemalt. Im Bewusstsein, etwas geschaffen zu haben, dass man dann sogar mit nach Hause nehmen kann, verbringen die demenzkranken Menschen einen schönen Nachmittag. Auch wenn sie daheim vielleicht gar nicht mehr wissen, wo das tolle Ostergesteck herkommt. Der Moment zählt – und der ist glücklich.

Wenn das Wetter mitspielt, werden kleinere Ausflüge gemacht – ein Picknick am Neckar zum Beispiel. „Daheim bin ich halt viel allein“, sagt die vornehme Dame mit der Kurzhaarfrisur. Daran erinnert sie sich wohl.

Das Betreuungsangebot für demenzkranke Menschen der Sozialstation findet jeden Donnerstag von 13 bis 17.30 Uhr statt. Unter bestimmten Voraussetzungen werden die Kosten ganz oder teilweise von der Krankenkasse übernommen. Anfragen, Informationen und Beratung bei der Sozialstation, Telefon 07423/ 95 09 50, oder unter www.sozialstation-oberndorf.de

Quelle: Schwarzwälder Bote am 04.04.2015

Veröffentlicht am   27. Juli 2015